Kul­tur­schock, der [kʊlˈtuːɐ̯ʃɔk]: (beim unmittelbaren Kontakt mit einer fremden Kultur) schreckhaftes Erleben der Andersartigkeit der durch die fremde Kultur erlebbaren Realität
Ok, ich muss zugeben, dass ich nach meiner Ankunft keinen wirklichen Kulturschock erlebt habe - alles andere hätte mich auch sehr überrascht, dafür ist die Distanz zwischen Großbritannien und Deutschland einfach zu gering. Somit fällt der Titel dieses Eintrags wohl eher unter die Rubrik „Clickbait“. Jedoch gibt es natürlich den ein oder anderen (mitunter auch recht großen) Unterschied zwischen beiden Ländern. Das wiederum veranlasst mich dazu hier einen Vergleich zu ziehen, um zu sehen, welches Land bei welchem Thema die Nase vorne hat. Dieser Vergleich stützt sich nicht großartig weiter auf wissenschaftliche Fakten, sondern stellt lediglich meine Erfahrungen und Meinung dar, die ich nun ungefiltert in die Welt hinausposaune - und dafür gibt es schließlich keine bessere Plattform als das Internet *Zwinkersmiley*
Leeds am Morgen: Engländer stehen ungern früh auf. Wo man sonst auf lange Schlangen trifft, sollte man dementsprechend "früh" hingehen (8:30 Uhr reicht), um ebenjener zu entgehen.
Also fangen wir an mit der ersten Kategorie:

Fortbewegung
Einer der ersten Unterschiede, der vermutlich jedem einfällt, ist die Tatsache, dass hier Linksverkehr herrscht. Dementsprechend findet man hier in den Autos das Lenkrad auf der rechten Seite, man steigt auf der anderen Seite in den Bus ein, man muss beim Überqueren der Straße zuerst nach rechts und dann nach links schauen, bevor man über die rote Ampel geht (das macht hier wirklich jeder). Eine „Links vor Rechts“ Regel an Kreuzungen gibt es hier wiederum nicht. Stattdessen wird alles mit Ampeln, Vorfahrtsschildern (Stop/Give way) oder (am beliebtesten) mit Kreisverkehren geregelt. Vor allem für zweispurige Kreisverkehre scheinen die Engländer eine Schwäche zu haben. Nach ein paar Fahrten hat man dann aber auch verstanden, wie und wo man sich vorher einordnet. 
Den Weg zur Uni lege ich mit dem Fahrrad oder zu Fuß zurück. Die Busanbindung ist leider nur recht mäßig, nach einer S- oder U-Bahn sucht man hier vergebens… Wenn man bedenkt, dass die Stadtfläche von Leeds doppelt so groß ist wie die von Stuttgart, ist das doch recht überraschend und auch etwas blöd, weil S-Bahnen durchaus praktisch sind, um schnell große Strecken zurückzulegen. Glücklicherweise wohne ich recht zentral und komme mit dem Fahrrad überall recht unkompliziert hin.
Falls das Wetter mal schlecht ist, gibt es Uber, eine Online Plattform, die quasi als Taxi-Ersatz dient - nur zu wesentlich günstigeren Preisen als bei normalen Taxen.
Für größere Strecken, die einen aus Leeds herausführen, stehen Fernbusse und Züge bereit. Daran, dass die Preisfindung bei Zugfahrten hier ähnlich willkürlich wie bei der Deutschen Bahn abläuft, ändert auch die Privatisierung des Schienennetzes mit unterschiedlichen Anbietern wenig. Die Fernbusse sind - ähnlich wie in Deutschland - relativ günstig, allerdings lässt der Komfort schon gut zu wünschen übrig… Die 2£ Aufpreis, die ich für zusätzliche Beinfreiheit (da bin ich für jeden Zentimeter dankbar) bezahlt habe, erwiesen sich als ziemlicher Flop, da zumindest nach Augenmaß zu urteilen alle Sitze gleich eng hintereinander gebaut wurden.
Menschen & Leben
„British Politeness“ ist nicht nur eine Floskel, die schnell mal dahingesagt ist, sondern auch tatsächlich Realität - zumindest größtenteils. Gerade ältere Menschen begegnen einem stets zuvorkommend und höflich. Sobald man irgendwie etwas verloren umherschaut, wird man nicht selten direkt von ihnen angesprochen und gefragt, ob einem geholfen werden könne. Bei den jüngeren Menschen ist es etwas anders. Diese scheinen tatsächlich eher verschlossen zu sein, zumindest Unbekannten gegenüber… Zwar haben sie schon durchaus ihre Freundesgruppen, mit denen sie Sachen unternehmen (allem voran feiern, gleich mehr dazu), allerdings haben viele von ihnen darüber hinaus erschreckend wenig Interesse an neuen Bekanntschaften. Das sorgt unter anderem dafür, dass in den Pausen zwischen den Vorlesungen oftmals eine ziemlich unangenehme Stille entsteht, weil kaum jemand miteinander redet. Die meisten verstecken sich hinter ihren Smartphones und sitzen die Pause aus… Wer sich nun Sorgen macht, dass ich keine Freunde finde, kann beruhigt sein. Hier gibt es auch sehr coole Leute in meinem Alter, allerdings scheint die Quote ebenjener doch erheblich geringer zu sein als in Bayreuth und Stuttgart.
Wetter
„Viel Spaß im Land des Regens“. Wie oft durfte ich diesen Satz vor meiner Abreise nach England hören… Ein Urteil darüber, ob das Wetter hier wirklich schlechter ist als in Deutschland, möchte ich mir hier nicht anmaßen. Schließlich weckt das Wetter in Deutschland in den Wintermonaten ebenfalls recht selten Lust auf Freibad. Mir kommt es jedoch so vor, als würde das Wetter hier etwas stärker schwanken. Momente mit eisigem Wind und Regen wechseln sich hier regelmäßig mit Momenten ab, in denen die Sonne scheint. Zudem kann man mit einem Blick aus dem Fenster nie wirklich voraussehen, wie kalt es draußen ist, da die Temperatur hier von Tag zu Tag recht stark variiert - vielleicht bin ich aber einfach generell nicht gut darin, das möchte ich nicht ausschließen.
Einen Unterschied zu Deutschland kann ich jedoch mit absoluter Sicherheit benennen: Die Temperaturwahrnehmung der Menschen. Während ich mit dickem Mantel, Mütze, Schal und Handschuhen durch die Gegend renne, sieht man nicht selten Briten, die einem in kurzen Hosen entgegenkommen. Noch extremer wird es, wenn man nachts die 18-jährigen Damen bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt in kurzen, dünnen Kleidern vor dem Nachtclub in der Schlange stehen sieht. Nach 3 Jahren im Schwabenland begrüße ich natürlich die Anstrengungen, das Geld für die Garderobe zu sparen, allerdings sollte man im Sinne der Gesundheit bei der Kälte vielleicht doch etwas mehr anziehen… Andererseits hat mich trotz meiner dicken Kleidung direkt innerhalb der ersten Wochen die „Fresher’s Flu“ erwischt, eine Erkältungswelle, die hier in den ersten Wochen einige aus der Bahn geworfen hat. Also vielleicht wird warme Kleidung auch einfach überschätzt.

Dieser Ausflug nach York sollte leider nicht der letzte bleiben, den uns der Regen etwas vermasselt hat... Aber so ist das halt manchmal...

Corona
Neben der „Fresher’s Flu“ geht natürlich auch noch Covid-19 umher, vielleicht habt ihr es mitbekommen. Von Covid-19, oder wie man hier sagt „Co-What?“, bekommt man hier im Alltag fast gar nichts mit. Mit Ausnahme von ein paar Schildern vor Geschäften, die einem wärmstens empfehlen doch gerne eine Maske zu tragen (einer Empfehlung, der die wenigsten nachkommen), ist Corona hier weitestgehend aus dem Alltag der Menschen verschwunden. Ursprünglich war mein Plan, mich in diesem Artikel etwas über die fahrlässige Coronapolitik der Briten zu amüsieren, allerdings habe ich jetzt so lange gebraucht, diesen Artikel zu vollenden (Verzeihung an dieser Stelle), dass Deutschland inzwischen bei der Inzidenz recht gut aufgeholt hat. Nicht wenige Bundesländer liegen gar deutlich über der britischen Inzidenz von 439,1 (Stand 24.11.2021).

Konzert von Cassia, einer Indie Pop Band, deren Musik ich sehr mag:)

Der Nachtclub mit der längsten Schlange davor: Die O2 Academy in Leeds

Feiern und Party
Doch das Leben hier geht trotz hoher Inzidenzen natürlich fleißig und ohne Maske weiter. An Schließungen von Discos ist hier kaum zu denken, denn wenn es etwas gibt, was die Briten richtig gut können, dann ist es, bei Parties so richtig die Sau rauszulassen. Ob bei Houseparties, im Club oder im Pub - nachts sind die Straßen hier ziemlich voll (morgens um 9 hingegen meist recht ausgestorben). Besonders beliebt bei den Briten: Verkleidet von Pub zu Pub ziehen. Meistens verständigen sich die Feierwütigen in Gruppen auf ein Motto und dann ziehen einem 8 verkleidete Männer (7 davon als Zwerge, einer als Schneewittchen) entgegen. Unter jungen Menschen ist es meist üblich sich zum Vorglühen in einer WG zu treffen, schlichtweg weil es den Geldbeutel zumindest etwas schont. Dennoch ist hier Alkohol ziemlich teuer und Bierkästen sucht man überall vergeblich. Hier findet man höchstens 18er Dosen Packs (jeweils 1 Pint = 0,57 Liter), die preislich bei 13£ (ca 15,50€) starten… Da vermisst der Schwabe doch glatt seinen guten Oettinger 20er-Kasten für 5€ im Angebot :)

Impressionen vom Lichterfest in Leeds

Die Fassade des "Queens" Hotel in der Nähe des Hauptbahnhofs

Ernährung
Neben dem Vorurteil, dass es hier stets regnet, wird den Briten ebenfalls häufig nachgesagt, dass sie keine Esskultur hätten. Dieses Vorurteil ist richtig.
Zumindest ist die britische Küche auf Dauer nicht genießbar. Ab und an schmeckt ein britisches Frühstück (Bacon, Spiegelei, Baked Beans, Toast, Würstchen und gebratene Pilze) schon gut, wäre aber zu fettig, sättigend und in der Vorbereitung zu aufwändig, um es täglich zu essen. Zu Mittag gönnen sich die meisten Briten lediglich einen Meal Deal aus dem Supermarkt (Tesco, Co-op, Sainsbury sind hier die Adressen). Ein solcher Deal besteht aus einem abgepackten Sandwich, einem kleinen Snack und einem Getränk und kostet meist 3£ oder 3,50£. Gelegentlich ist so ein Meal Deal auch gar nicht so schlecht, um den kleinen Hunger zwischendurch zu stillen. Jedoch ersetzt er in keiner Weise ein vollwertiges Mittagessen… Eine richtige Mensa gibt es hier an der Uni gar nicht - lediglich kleinere Essensstände, wo man primär vor allem Chicken mit Chips (also Pommes, Chips heißen hier „crisps“) bekommt. 
Generell sind die Engländer beim Zubereiten von Chicken sehr kreativ. Man kommt sich beim Durchlesen des Essensangebot in der Kantine etwas vor wie beim Schauen von „Forrest Gump“, wenn Bubba einem die unterschiedlichen Zubereitungsmöglichkeiten von Shrimps aufzählt. Hier gibt es Chicken Nuggets, Chicken Burger, Chicken Spieße, Chicken Spieße (orientalische Art), Chicken Wraps, Chicken Salat usw. Als Beilage natürlich immer mit dabei: Chips (also Pommes, wie verwirrend…). Allgemein haben die Briten ein sehr lockeres Verhältnis gegenüber ungesunder Ernährung. Nicht selten gehen sie einfach in den nächsten Supermarkt, um sich Süßigkeiten, wie Skittles, Gummibärchen oder Chips (also hier crisps; das, was für uns Chips sind... wie nervig...) zum Stillen des kleinen Hungers zu kaufen. Dementsprechend verwundert es nicht, dass man hier häufig noch Süßigkeiten Läden findet, was wiederum auch irgendwie recht knuffig ist.
Damit die Briten hier nicht allzu schlecht dastehen, möchte ich meine Aussagen noch etwas in Relation setzen: Für jemanden, der das letzte Jahr in Stuttgart in seinem links-grün versifften Umfeld aus Vegetariern und Veganern verbracht hat, wirkt die Ernährungsweise hier natürlich recht fleischlastig und ungesund. Und ja, die Kühlregale für abgepacktes Chicken und Pork sind hier in den Supermärkten recht lange, jedoch ist auch in Deutschland das Angebot an Billigfleisch nicht gerade knapp. In meiner Heimatregion Franken wandert einem auch kaum ein Tier über den Weg, bei dem der Franke noch nicht auf die Idee gekommen ist, es zu einem Braten zu verarbeiten und mit Klößen und Blaukraut zu servieren. Insofern sollte man sich bei der Ernährung immer zuerst an die eigene Nase fassen und bewusst konsumieren.
Ich habe jedenfalls selten so viel selbst gekocht wie in den letzten Wochen hier in England, worüber ich mich freue:)
Das britische Gericht schlechthin: Fish'n'Chips. Ich habe lediglich die Hälfte dieser Portion geschafft, mehr geht da einfach nicht...
Ein traditioneller britischer "Sunday roast" (Braten) mit Yorkshire Pudding (das, was aussieht wie ein Muffin), Röstkartoffeln und Gemüse

Ein typisches "British Breakfast" - ab und an schon ziemlich lecker :) 

Bildung
Wer schon bei dem Chips/Pommes/Crisps Problem verwirrt war, darf sich nun fest anschnallen, denn in ein paar Bereichen sind den Briten ihre eigenen brillanten Einheiten eingefallen - Genial!
Gerade ist uns schon das Pint („bisschen mehr als n Halbes“) über den Weg gelaufen. Apropos „Weg“: Strecken werden hier im Alltag in Meilen (1 mile = 1,61 km), „feet“ (1 foot = 30,48cm) und „inches“ (1 inch = 2,54cm) angegeben. Dementsprechend stehen auf den Tachos und Straßenschildern die Geschwindigkeitsangaben in „miles per hour“. Blöd nur, wenn man mit einem deutschen Auto in Großbritannien unterwegs ist - „miles“ lassen sich nur so mittelgut im Kopf in Kilometer umrechnen… An der Universität werden Längen jedoch im Sinne der Wissenschaft in den uns geläufigen Einheiten angegeben. Hier sollte man nur nicht über die „one billion“-Falle stolpern. Während „one million“ wie die deutsche „eine Million“ für eine 1 mit sechs Nullen steht, entsprechen „one billion“ und „eine Milliarde“ beide einer 1 mit 9 Nullen. „Eine Billion“ hat in Deutschland wiederum 12 Nullen, was man hier in Großbritannien bereits „one trillion“ nennt. Hier muss man also etwas vorsichtig sein.
Last but not least kommen wir zu dem Punkt, der mich seit meiner Ankunft hier am meisten plagt: die nicht vorhandene Mülltrennung… Gerade im privaten Raum kommt das Plastik zusammen mit den Bioabfällen einfach direkt zum Papiermüll dazu. Das widerstrebt jeglichem natürlichen Instinkt. Zwar gibt es einen Glascontainer in der Nähe, jedoch wandern auch Glasflaschen hier eigentlich immer mit zum restlichen Müll. In der stillen Hoffnung, dass während meines Aufenthalts noch irgendwann ein Pfandsystem eingeführt wird, wächst meine kleine Flaschensammlung stetig weiter - die Hoffnung stirbt zuletzt…

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